Weil Ämter nicht erreichbar waren, mussten Menschen Leistungseinschränkungen hinnehmen
Im Interview zieht Diözesan-Caritasdirektor Dr. Frank Johannes Hensel nach fast drei Jahren Corona-Pandemie Bilanz und erklärt, warum wir immer noch von echter Bildungsgerechtigkeit entfernt sind.
Herr Dr. Hensel, seit fast drei Jahren leben wir mit der Pandemie. Was hat das bisher für den Diözesan-Caritasverband bedeutet?
Dr. Hensel: Zu den großen Herausforderungen gehörte es, eine Erreichbarkeit der Beratungsstellen für die Klientinnen und Klienten zu gewährleisten. Da ging es um Raumausstattung, um Schutzmaterial und damit ausreichend gesicherte Kontaktmöglichkeiten, denn ein Rückzug von den Menschen, die unsere Hilfe suchen, durfte nicht sein. Leider haben die vielen guten Beispiele bei den Beratungs- und Betreuungsangeboten der Wohlfahrtspflege nicht gereicht, um behördliche Strukturen, wie zum Beispiel die Jobcenter, zum Nachahmen zu animieren. Viele Menschen standen vor der Schwierigkeit, rechtzeitig amtliche Ansprechpersonen zu finden und konnten Unterlagen nicht fristgemäß einreichen, was Leistungseinschränkungen und damit zusätzliche Not bedeutet. Auf der anderen Seite mussten wir alle erst einmal begreifen, dass es ein Virus gibt, das viele und vieles lahmlegt – und ein Lockdown war natürlich völlig ungeübt. Hinzu kamen konkrete Ängste um sich selbst und anvertraute Mitmenschen vor einer bis dahin unbekannten Krankheit. Was die sozialen Einrichtungen betrifft, standen wir vor ganz praktischen Aufgaben: Wie lässt sich eine Quarantäne umsetzen? Und welche Folgen ergeben sich für Seniorenheime, Krankenhäuser und Tageseinrichtungen?
Ab März 2022 griff die umstrittene einrichtungsbezogene Impfpflicht. Alle, die für Pflegedienste, in Kliniken oder Praxen arbeiten, mussten eine vollständige Corona-Impfung nachweisen. Ansonsten drohten Tätigkeitsverbote oder Bußgelder. War dies gerechtfertigt?
Dr. Hensel: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht war ja als erster Schritt zu einer umfassenden Impfpflicht in der Bevölkerung gedacht und medizinisch vernünftig und geboten. Zum damaligen Zeitpunkt war es eine Möglichkeit, alte Menschen zu schützen und Solidarität mit vulnerablen Gruppen zu zeigen. Auch war längst nicht so klar, dass eine Impfung nicht sehr lange vor weiteren Ansteckungen schützt. Insgesamt war der ganze gesetzliche Prozess so zäh, dass der Winter und das Frühjahr darüber praktisch vergingen und die Ablauffrist der Vorschrift zum Jahresende rasch näher rückte. Ein Auslaufen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ist sicher konsequent. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen wird nicht verlängert, sondern soll zum Ende des Jahres 2022 auslaufen. Das hat das Bundesgesundheitsministerium mitgeteilt.
Besonders Familien und Kinder fühlen sich durch Corona abgehängt. Als Diözesan-Caritasdirektor treten Sie gegenüber der Landesregierung vehement für Bildungsgerechtigkeit ein. Was muss sich konkret ändern?
Dr. Hensel: Das beginnt schon damit, dass endlich allen Kindern und Jugendlichen in den Schulen die benötigten Materialien zur Verfügung stehen. Das gilt insbesondere für digitale Endgeräte, was uns Pandemie und Homeschooling vor Augen geführt haben. Jedes Kind muss eine gute Chance auf Bildungserfolg haben und braucht im Bedarfsfall individuelle Unterstützung dabei. Kinderbildung muss für die Familien kostenfrei sein und darf nicht vom Einkommen der Eltern abhängen. Im Schulgesetz des Landes ist die Lehr- und Lernmittelfreiheit grundsätzlich verankert, gleichzeitig sind aber auch Eigenanteile der Eltern zu leisten. Es kommen auch noch die Ausgaben für Bücher und Ähnliches hinzu, was für viele Eltern mit geringem Einkommen und mehreren Kindern nicht mehr zu stemmen ist. Ein weiterer wichtiger Faktor wäre, alle Schul- und Kita-Ausflüge und die dazugehörige Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel kostenfrei anzubieten. Schließlich handelt es sich hierbei um Angebote der frühkindlichen Bildung und der Schulbildung. Und eine warme kostenfreie Mahlzeit gehört im Ganztag einfach dazu, das sollte es uns als Gesellschaft wert sein.
In vielen Kitas herrscht Notbetrieb, was bedeutet, dass Kinder seit Monaten nur eingeschränkt versorgt werden können. Mal werden die Betreuungszeiten gekürzt, mal müssen Gruppen wegen Personalmangels zusammengelegt oder einzelne ganz geschlossen werden. Eltern, Kinder und Erziehende sind oftmals am Limit.
Dr. Hensel: Die Situation ist an ganz vielen Stellen sehr schwierig, nicht nur im Kita-Bereich, aber hier dürfen die Betreuung und Bildung natürlich nicht in einem solchen Ausmaß geschwächt sein. Bedingt durch Fachkräftemangel und Krankheitsausfälle können vielerorts die wichtigen sozialen Dienstleistungen nicht mehr ausreichend erfüllt werden. Die Fachkräftegewinnung und -bindung sind zu einer vorrangigen Aufgabe und Anstrengung für alle Träger geworden. Wichtiger Hebel, um Jugendliche für eine Ausbildung im sozialen Bereich zu gewinnen, ist eine sinnvolle und anspruchsvolle Tätigkeit mit einem angemessenen Gehalt und guten Arbeitsbedingungen. Interessant und sicher sind die sozialen Arbeitsplätze ja, wenn dazu auch attraktive Aufstiegsmöglichkeiten und ein finanziell abgesicherter Ausbildungsweg kommen, dann entscheiden sich viele junge Menschen gerne für soziale Berufe. Als Caritas sind wir gefordert, diese wichtigen Dinge zu gewährleisten und den beruflichen Einsatz in eine zur Lebenssituation passende Vereinbarkeit mit wichtigen anderen Interessen und Aufgaben des Lebens zu bringen.
Wie wurden die Belange der Caritas und der Wohlfahrtsverbände von der Politik aufgegriffen?
Dr. Hensel: Die Forderung nach finanzieller Absicherung der sozialen Infrastruktur ist aufgenommen worden, zumal Gesellschaft und Politik rasch klar wurde, dass die Caritas und die Wohlfahrtsverbände systemrelevant sind. Die Versorgung von alten und kranken Menschen, von Menschen mit Behinderung, die Wohnungslosenhilfe, die Schuldnerberatung, die Suchtberatung, die ganzen Kindertageseinrichtungen sind einfach unverzichtbar. Nicht gut umgesetzt wurde unser Anliegen der Erreichbarkeit der kommunalen Ämter. Die Jobcenter waren zum Beispiel über eine lange Zeit nur noch digital zu erreichen. Menschen, die ungeübt sind, ein persönliches Gespräch brauchen oder nicht über die technische Ausstattung verfügen, haben das Nachsehen in ihrem Recht auf Unterstützung. Und es sind mehr, als die Verwaltung annimmt.
Hätte sich die Politik nicht auch mehr um die Jugendlichen kümmern müssen, die sich selbst als verlorene Generation fühlen?
Dr. Hensel: Die Jugendlichen sind eine Gruppe, von der viel Solidarität verlangt wurde und die viele Rücksichten zu nehmen hatte. Leider wurden Lernangebote zu zögerlich oder zu nachlässig digital angepasst, auch die erforderliche Geräteausstattung als Voraussetzung für ein gelingendes Homeschooling wurde bisweilen versäumt. Entstanden sind Lernlücken, welche sich voraussichtlich auch über das Corona-Aufholprogramm nicht mehr recht schließen lassen.
Wie gut sind die sozialen Einrichtungen insgesamt durch die Pandemie gekommen?
Dr. Hensel: Die meisten sozialen Einrichtungen sind dank engagierter Mitarbeitender und mit privater und staatlicher Unterstützung gut durchgekommen. Ausgerechnet bei den Mutter-Vater-Kind-Einrichtungen wurden allerdings die coronabedingten Belegungsausfälle durch die kurzfristige Absage zahlreicher Familien in keiner Weise kompensiert.
Hat die Pandemie auch zu Verbesserungen geführt, was die Erreichbarkeit und Fokussierung der Angebote angeht?
Dr. Hensel: Was klar vorangetrieben wurde, ist die Digitalisierung, die zum festen Bestandteil des Arbeitsalltags geworden ist. Unsere Klientinnen und Klienten finden über die unterschiedlichsten Kanäle den Zugang zu unseren Beratungsstellen: Face-to-Face, per Mail, Chat, Video. Wir erreichen jetzt mehr Menschen leichter. Die Kommunikationswege sind vielfältiger und lassen sich besser den jeweiligen Erfordernissen anpassen. Langwierige oder beschwerliche Anfahrten und Ausgaben für Fahrkarten können so vermieden werden. Ausgerechnet die infektionsbedingte Distanz hat manche neue Brücke für eine erleichterte Kontaktaufnahme entstehen lassen.
© Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V.
Redaktion: Markus Harmann (verantwortlich), Barbara Allebrodt, Pia Klinkhammer, Sandra Kreuer, Anna Woznicki, Michaela Szillat
Grafik / Layout: Birte Fröhlich, www.bird-design.de
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